Der Wohraplan

Jahrgangsübergreifendes Lernen (JÜL) in der Grundschule:

Die Fortschreibung des Wohraplans

 

1.    Unsere pädagogische Grundeinstellung

Seit dem Schuljahr 2010/2011 und mit Einführung des Flexiblen Schulanfangs werden an unserer Schule alle SchülerInnen ausschließlich in jahrgangsübergreifenden Stammgruppen unterrichtet, und zwar jeweils in den Stammgruppen 1/2 und 3/4. Außerdem sind wir seit jenem Schuljahr eine „Schule für alle“, d. h. alle Kinder im Grundschulalter aus unserem Einzugsbereich werden inklusiv unterrichtet. Durch die Erfahrungen der letzten 5 Jahre, die wir hier im Folgenden vorstellen, fühlen wir uns in unserem pädagogischen Ansatz bestätigt, dem die Überzeugung zugrunde liegt, dass Kinder am besten von Kindern lernen, so wie das auch in unserer alltäglichen dörflichen Kinderwelt üblich ist. Vor diesem Hintergrund erscheint uns die Einteilung in jahrgangshomogene Gruppen ein unnötiger Eingriff zu sein, der einem natürlichen Miteinander oft wenig förderlich ist.

Grundlegend für unsere pädagogische Arbeit ist die Haltung zum Kind, d. h. an unserer Schule ist jedes Kind willkommen und wird mit offenen Armen empfangen. Wir verstehen jedes Kind als Bereicherung für unsere Schulgemeinde und begegnen ihm mit entsprechender Offenheit und Zuneigung. Diese Haltung signalisieren wir auch ganz bewusst den Eltern und versuchen ihnen das Gefühl zu geben, dass auch sie in unserer Schulgemeinde willkommen und wichtig sind. Diese Haltung bildet die entscheidende Grundlage dafür, dass sich die Kinder in unserer Schule zuhause und die Eltern ernstgenommen fühlen und sich alle mit ihrer Schule identifizieren können. Dies entspricht den Grundsätzen und Prinzipien, die dem Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan zugrunde liegen.

2.    Das Leben in der Stammgruppe ½

Die mit jahrgangsübergreifendem Arbeiten einhergehende Heterogenität empfinden wir als Chance für ein fruchtbares Lernen, dem das Prinzip des Gebens und Nehmens zugrunde liegt. Jede Stammgruppe arbeitet über einen längeren Zeitraum an einem gemeinsamen Thema, das von den verschiedenen Fächern (Deutsch, Kunst, Musik, Religion, Sachunterricht) aus beleuchtet und erschlossen wird. Hierbei stehen immer das Thema und das Kind im Mittelpunkt des Unterrichts und nicht das einzelne Fach. Jedes Kind bringt sich gemäß seinen Bedürfnissen, Stärken und Fähigkeiten in den Unterricht ein. Die geleisteten Beiträge werden in gleicher Weise gewürdigt und abschließend in einem Themenheft zusammengefasst. Jedes Kind stellt zum Abschluss sein ganz eigenes Themenheft vor, in dem sich seine eigene Individualität wiederspiegelt.

Im ersten Jahr unterrichten wir nun auch Mathematik jahrgangsübergreifend. Nach Erarbeitung des Ziffernschreibkurses in Jahrgang 1 versuchen wir möglichst viele Themen gemeinsam zu bearbeiten und zu reflektieren.

3.    Das Leben in der Stammgruppe ¾

In den Stammgruppen findet je nach Einsatz der Klassenlehrkraft eine vermehrte Gewichtung des jeweiligen Faches statt. Folgende Fächer werden überwiegend wie in den Stammgruppen ½ mit einem Themenheft miteinander verbunden: Sachunterricht, Deutsch. Hier erstellen die SuS wechselweise Themenhefte oder arbeiten mit differenziertem Material an sprachwissenschaftlichen, orthografischen, lesetechnischen oder schreibbezogenen Aufgaben. Auch hier versuchen wir so viele Inhalte wie möglich gemeinsam zu erarbeiten und zu reflektieren.

Hier ein Beispiel zum Thema Wortarten – Adjektive:

a)    Einstieg: Wir beschreiben eine Person/Ratespiel: Ich kenne jemanden, den du auch kennst, der ist …

b)    Sammeln von Adjektiven

c)    Individuelles Arbeiten in jahrgangsbezogenem Material

d)    Gemeinsame Reflexion entsprechend der Zielsetzung des Unterrichts (z.B. Wie erkennst du ein Adjektiv? Warum gibt es Steigerungen? Was beobachtest du dabei/was fällt dir auf?)

Der Matheunterricht findet nun ebenfalls in jahrgangsübergreifenden Gruppen statt. 

4.    Material

4.1 Themenkisten

Diese Form des Arbeitens ist nur durch ein hohes Maß an differenziertem Arbeitsmaterial möglich, das wir als Team in den letzten Jahren gemeinsam erarbeitet und in Themenkisten zusammengefasst haben. So können wir zunehmend gewährleisten, dass jedes Kind seinem Entwicklungsstand entsprechendes Material erhält.

4.2 Ganzschriften

Zu unserem Bestand gehören außerdem etliche Ganzschriften, teilweise schon in differenzierten Ausgaben auf 3 Leseniveaus.

5.    Der Lehrende als Lernbegleiter

Der selbstverständliche Umgang mit differenziertem Material bringt auch ein zunehmendes Maß an selbständigem Arbeiten mit sich. Dies wird schon vom 1. Schuljahr an angelegt. Die Kinder lernen, ihren Arbeitsprozess möglichst selbständig zu organisieren. Neben dem differenzierten Material spielt hier das Helferprinzip eine entscheidende Rolle: „Frage zuerst deinen Paten bzw. Tischnachbarn um Hilfe, wenn du etwas nicht verstehst!“ Gemäß diesem Prinzip wird der Mitschüler zum Ansprechpartner und Mitarbeiter. Die Konzentration und Erwartungshaltung richtet sich nicht einseitig auf die Lehrperson, die mehr zum Begleiter als Anleiter wird. Begleitung heißt in diesem Sinne: Den Kindern das ihnen angemessene Material zur Verfügung stellen; die Kinder, die es können, zum selbständigen Arbeiten anhalten; die von zu Hause aus strukturbedürftigen Kinder enger begleiten und ihnen entsprechende Hilfen geben. In dem Maße, wie der Anteil des Frontalunterrichts sich auf ein Mindestmaß reduziert, bleibt in den Freiarbeitsphasen entsprechend mehr Zeit für die individuelle Einzelbetreuung sowie für Erklärungen in Gruppen- und Einzelgesprächen.

6.    Helferprinzip

So wie das ältere und fähigere Geschwister unter dem Auge der Mutter den kleineren Geschwistern leicht alles zeigt, was es kann, und sich froh und groß fühlt, wenn es also die Mutterstelle vertritt, so freuten sich meine Kinder, das, was sie konnten, die anderen zu lehren. Sie lernten gedoppelt, indem sie selbst vormachten und nachsprechen machten. So hatte ich schnell unter meinen Kindern selbst Gehülfen und Mitarbeiter, die … brauchbarer waren als angestellte Lehrer.“ (J.H. Pestalozzi: Stanser Brief 1799)

Das mit dieser Form des Arbeitens einhergehende Helferprinzip ist ein wichtiger Baustein in der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder: In den jahrgangs-übergreifenden Gruppen vollziehen sie einen Rollenwechsel vom Nehmen zum Geben. Sie werden von Anfängern zu Experten und können so anderen helfen zu lernen. Dadurch vertiefen sie u. a. auch ihr Wissen, indem sie verbalisieren können müssen. Und diesen Rollenwechsel vollziehen sie in unserer Grundschule noch ein weiteres Mal, eben in der Stammgruppe 3/4. All die bisher beschriebenen Vorteile des jahrgangsübergreifenden Lernens werden in dieser Altersgruppe vertieft und intensiviert. So haben die Kinder vier, manchmal sogar fünf Jahre Zeit, die an unserer Schule praktizierten Lernformen zu verinnerlichen und persönlich gefestigt auf eine weiterführende Schule zu gehen.

7.    JÜL und Inklusion

Eine Umstellung auf jahrgangshomogene Gruppen 3 und 4 würde für uns einen pädagogischen Bruch darstellen, der eben diesen fruchtbaren Prozess der Verinnerlichung zuwiderlaufen würde.

In diesem Prozess spielt auch der Zeitfaktor eine wichtige Rolle: So kann unsere Eingangsstufe bis zu 3 Jahre umfassen, ohne dass sich ein Kind zurückversetzt fühlen muss. Auch ist die Eingangsstufe eine vollständig notenfreie Phase, in der es den Kindern ermöglicht wird, ihre Fähigkeiten ganz frei von Notendruck zu entfalten. Dies bedeutet auch die Konzentration auf die eigenen Leistungen, fern vom ständigen Vergleichsdenken, das die verfrühte Notengebung zwangsläufig mit sich bringt.

Dass jedes Kind in seinem eigenen Tempo arbeitet und nicht immer dieselben Aufgaben wie die Tischnachbarn bearbeitet, ist völlig selbstverständlich für die Kinder der Grundschule Wohra. Und eben diese Erfahrung und Einstellung ist die beste Voraussetzung für inklusiven Unterricht, denn hier wird Anderssein zur Selbstverständlichkeit und eine vermeindliche Behinderung zur Bereicherung für uns alle; genau hier nämlich spiegelt sich die Realität wieder, auf die wir unsere Kinder vorbereiten.

JÜL ist vielmehr die Reaktion auf Heterogenität. Es ist die verzweifelte Suche nach Flexibilität zu Gunsten der Kinder in einem starren Bildungssystem.“ (sinngem. zitiert von Univ. Prof. Dr. v. Saldern, Vortrag „Jahrgangsgemischte Grundschule“, 22.09.2015)

8.    Das Team

Diese Realität findet sich auch in unserem Team wieder, das neben Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern eine Zusatzqualifikation und Bereicherung durch unsere Sozialpädagogin, Förderschullehrerinnen und Förderschullehrer sowie Betreungskräfte erfährt. Genauso verstehen wir unsere Zusammenarbeit und das spiegelt sich auch im Unterricht wieder. Gemeinsames Vorbereiten findet in Teambesprechungen statt. Gleichberechtigtes und wertschätzendes Arbeiten sind die Regel, kollegiale Hospitationen und erweitertes Teamteaching die Vision für die Zukunft.

9.    Rituale

Wir sind uns bewusst, dass wir den Kindern durch die jahrgangsübergreifenden Stammgruppen in einer vierjährigen Grundschule jährliche Wechsel im Gruppenverband zumuten und versuchen dies in unserer kleinen Schule (50 bis 60 Kinder) durch das Prinzip: „Alle haben mit allen zu tun“ auszugleichen. So beginnt zweimal pro Woche der Schultag mit einem gemeinsamen Schulanfang, einmal pro Woche finden jahrgangsübergreifende AG’s statt und alle betreuenden Personen sind meist in der einen oder anderen Form in allen Stammgruppen eingesetzt. Das heißt auch, dass ein Klassenlehrer seine Gruppe nicht mehr 4 Jahre lang begleitet.(s. Rahmenplan Grundschule 2.5 Feste, Feiern, Regeln und Rituale)

Das Wir-Gefühl wird natürlich auch durch regelmäßige Aufführungen und Feste gestärkt.

10.Elternmitarbeit

Die Eltern werden dabei u. a. bei Aktionstagen gefordert. Herausragende Beispiele waren die Gestaltung des Außengeländes sowie der Umbau eines Klassenraumes zu einer Lernlandschaft. Hier war der Einsatz der Eltern enorm. Darüber hinaus werden Eltern auch zur inhaltlichen Einflussnahme ermuntert. So bestand die damalige Arbeitsgruppe zur Erarbeitung des Wohraplans z. B. aus 2 Lehrerinnen und Lehrern, unserer Sozialpädagogin und 2 Elternteilen. Derzeit gibt es eine rege Teilnahme der Elternvertreter an unseren Gesamtkonferenzen, was uns sehr freut.

11.Der berühmte Tellerrand  

Bei jährlichen Hospitationen schauen wir immer wieder über unseren Tellerrand. Einige Anregungen haben wir umgesetzt, wie z. B. den gemeinsamen Schulanfang, Schule ohne Schulklingel und eine kindgemäße Rhythmisierung des Schulvormittages.

In diesem Sinne ist unsere Schule auch ein Haus der offenen Türen, in dem alle Interessierten innerhalb bzw. außerhalbe unserer Schulgemeinde eingeladen sind, sich ein eigenes Bild unserer kleinen Schule zu machen und sich von unserem Motto „Grundschule Wohra … immer in Bewegung“ zu überzeugen.

 

 

Wir über uns